Offshore-Windenergie in Deutschland und Großbritannien : Industrie- und energiegeographische Faktoren und AusbauerfordernisseFromho
Buijzen, Michael; Wieger, Axel (Thesis advisor); Fromhold-Eisebith, Martina (Thesis advisor)
Aachen (2016)
Doktorarbeit
Dissertation, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2016
Kurzfassung
Mit der verstärkten Projektplanung bzw. dem einsetzenden Baubeginn verschiedener Offshore-Windenergieprojekte in Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland, vorwiegend ab den Jahren 2005/06, stellt sich unter wirtschaftsgeographischer Untersuchungsperspektive die Frage, welchen Einfluss die Entwicklung eines neuen Industriesektors - hier im Speziellen des Offshore-Windindustriesektors - auf die regional- und gesamtwirtschaftliche Situation unterschiedlicher Volkswirtschaften Europas ausüben kann. Den Untersuchungsschwerpunkt dieser Dissertation bilden die energiewirtschaftlichen Strukturen und besonderenRahmenbedingungen der Länder Deutschland und Großbritannien.Durch die ehrgeizigen, verbindlichen Umweltziele der Europäischen Union, die beinhalten, dass bis zum Jahr 2020 durchschnittlich 20 % des Primärenergieverbrauchs (PEV) der einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten aus Erneuerbaren Energien stammen müssen - im Detail Deutschland 18 % und Großbritannien 15 % - (EU-Richtlinie 2009/28/EG), rücken diejenigen Industriezweige der Erneuerbaren-Energien-Branche, welche eine möglichst hohe (nachhaltige) Wertschöpfung im Installationsland erzielen und durch Technologieführerschaft umfangreiche Exportmöglichkeiten bieten, in den Fokus der Politik und Wirtschaftsförderungsgesellschaften.Bei einem 20%igen durchschnittlichen Primärenergieverbrauch (PEV) aus Erneuerbaren Energien - welcher sich insgesamt aus den Sektoren Wärme, Verkehr und Strom zusammensetzt - wird der erneuerbar erzeugte Stromanteil insgesamt einen systemrelevanten Anteil von mindestens 35 % am Gesamtstrommix betragen müssen. Mit bis zu 4400 realen Volllaststunden, einer durchschnittlich mit zumeist 5 Megawatt (MW) fast doppelt so starken Turbinenkapazität je installierter Anlage, einer bis zu 40 % höheren Windausbeute - unter Berücksichtigung der wesentlich schnelleren Windgeschwindigkeiten und der höheren Luftdichte auf dem Meer - und den zusätzlich auf-tretenden positiven Synergieeffekten bei der Bildung von Offshore-Windpark-Clustern stellt die Offshore-Windenergie meiner Ansicht nach eine zentrale Technologie für den angestrebten Systemwandel dar.Im aktuellen rechtsgültigen Raumordnungsplan der deutschen "Ausschließlichen Wirtschaftszone" (AWZ) für Offshore-Windenergie (Nordsee: 26.09.2009; Ostsee: 19.12.2009) sind in der Nordsee 5 "Vorranggebiete" mit einer Gesamtgröße von 880 km2 und in der Ostsee 2 "Vorranggebiete" mit einer Gesamtgröße von 130 km2 (mit zusammen 22 Offshore-Windparks und einer Erzeugungskapazität von 11 Gigawatt) ausgewiesen. Um der Offshore-Windbranche langfristige Investitions- und Planungssicherheit zu geben, versucht das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH), frühzeitig die Raumordnungspläne für die Nord- und Ostsee an neue Entwicklungen wie der maritimen Rohstoffgewinnung und Energieseekabelverlegung anzupassen und möglichst geographisch konzentriert "Vorranggebiete" (hier ist jegliche andere Nutzung ausgeschlossen) auszuweisen. Die britische königliche Staatsverwaltung "The Crown Estate" (www.thecrownestate.co.uk) hat in den ersten beiden Ausschreibungs- bzw. Entwicklungsrunden - der "Tender Round 1" (im Jahr 2000) und der "Tender Round 2" (im Jahr 2003) - insgesamt Erzeugungskapazitäten im Bereich Offshore-Windenergie von 8 Gigawatt (GW) fürGroßbritannien vergeben. Die im Jahr 2010 erfolgte dritte Ausschreibung "Tender Round 3" mit 25 GW, welche bis zum Jahr 2030 abgeschlossen werden soll, gibt der aktuell im Aufbau befindlichen britischen Offshore-Windindustrie langfristige Entwicklungsmöglichkeiten. Bei den bisher in Deutschland umgesetzten Offshore-Windenergieprojekten fallen neben der Besonderheit der Wassertiefe (bis zu 55 m) und weiten Küstenentfernung (bis zu 150 km), welche sich zukünftig auch im Leitmarkt Großbritannien einstellen werden, noch viele spezielleProjektstrukturen und -durchführungen, wie diversifizierte nationale sowie internationale Investorenstrukturen (Energieversorgungsunternehmen, Finanzinvestoren und Investmentfirmen) und innovative umweltschonende Errichtungslogistiken, auf. Da überwiegend aufgrund geographischer Gegebenheiten und lächennutzungskonkurrenzen die zukünftigen Offshore-Windenergieprojektgebiete und -cluster immer weiter vom Festland entfernt sein werden, werden sowohl die "Aufbau-Logistik" als auch die anschließende "Service-Logistik" einen immer wichtigeren und zunehmend komplexeren Bestandteil der Wertschöpfungskette darstellen.Zahlreiche Unternehmen aus der Logistikbranche, aber auch aus bisher artfremden Branchen wie der Baukonzern Hochtief, haben diese Entwicklung erkannt und richten sich aktuell im Speziellen auf die derzeit heranwachsende Offshore-Windindustrie und deren spezifische Anforderungen aus. Ein Spezialschiff der neuesten Generation ist in der Lage, etwa 80 komplette Offshore-Windenergieanlagen pro Jahr zu errichten. Diese neue Generation von Installations- und Errichterschiffen kann auch bei sehr schwierigen Wetterbedingungen (hohe Wellen und starker Wind) ohne zeitliche Verzögerungen und Unterbrechungen - bis zu 300 Tage im Jahr - Offshore-Schwerlastkomponenten installieren und so wetterbedingte Wartezeiten innerhalb des Installationsprozesses minimieren, welche heute noch einen hauptsächlichen Kostenaspekt im Bereich der Aufbaulogistik darstellen.Im Rahmen der "Strom-"Energiewende wird es zu erheblichen strukturellen Anpassungen der Strominfrastruktur kommen müssen. Die deutsche Bundesregierung hat erkannt, dass unter Berücksichtigung dieser energiewirtschaftlichen Entwicklungen der systemrelevante Stromnetzausbau sowohl auf der Höchst-(380 bzw. 230 kV) und Hochspannungsebene (110 kV) als auch auf der Verteilnetzebene (sowohl Mittelspannung mit 1 bis 30 kV als auch Niederspannung mit 230 bis 400 V) eine zusätzliche Dynamik erhält. Seit dem Jahr 2009 hat die Bundesregierung eine Vielzahl wichtiger Gesetze, wie das "Energieleitungsausbaugesetz" (EnLAG), das "Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetz" (NABEG), das "Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz"sowie den seit Mai 2012 für die gesamte Strominfrastruktur übergeordneten"Bundesnetzentwicklungsplan Strom" erlassen. Eine große Herausforderung derzukünftigen Strominfrastruktur in Bezug auf die Raumplanung sind die neu zu errichtendenbundeslandübergreifenden Drehstrom- und Hochspannungsgleichstrom-(HGÜ)-Verbindungen,da die Genehmigungspraxis von Bundesland zu Bundesland stark variiert.Ein detailliertes Verständnis der "Strom(preis)struktur" ist von zentraler Bedeutung, um vieleenergiewirtschaftliche Handlungen und Zusammenhänge verstehen zu können. In dermonetären Förderung von neuen Energieerzeugungskapazitäten im Bereich ErneuerbareEnergien stehen sich (zumindest in der Theorie) mit dem im Jahr 2000 eingeführten deutschenFestpreis-Einspeisemodell nach dem "Erneuerbaren-Energien-Gesetz" (EEG) und dem im Jahr2002 erstmals angewendeten britischen Quotenmodell "Renewable Obligation Certificate"(ROC) zwei unterschiedliche Förderungssysteme erneuerbarer Energietechnologien gegenüber,die bei der Bewertung vergangener Marktentwicklungen und zukünftiger Perspektiveneiner verstärkt international im Wettbewerb stehenden Offshore-Windindustrie berücksichtigtwerden müssen.Eine erfolgreiche Strukturpolitik setzt die Kenntnis von Raumstrukturen, das Erkennen vonglobalen Produktionszusammenhängen und ein Gespür für zukünftige Entwicklungstendenzenvoraus. Eine herausragende Theorie der Raumstruktur ganzer Länder mit einer differenziertenAnalyse der Verlagerung ökonomischen Wachstums einzelner Wirtschaftsmächte bildet die"Theorie der Langen Wellen" ("Kondratieff-Wellen"). Die wirtschaftliche Dynamik der derzeitigen4. Langen Welle hat sich in den letzten Jahren vermindert, was auf ein Auslaufen der aktuellenWelle hindeuten könnte. Meiner Ansicht nach haben die Erneuerbaren Energien im Allgemeinen,und die Offshore-Windenergie im Speziellen, das Potential, aufgrund vielfältigentechnischen Innovationspotenzials, Komponente einer 5. Langen Welle zu werden. Durchumfangreiche wirtschaftliche Eingriffe, wie EEG-Erhöhung für Offshore-Windenergie, Initiationdes 5-Mrd.-€-KfW-Kreditprogramms für 10 deutsche Offshore-Windparks, unterstützt diedeutsche Bundesregierung den Aufbau einer diversifizierten Offshore-Windindustrie, die geradein den konjunkturabhängigen und strukturschwachen Küstenregionen in Norddeutschland neuezukunftsfähige Arbeitsplätze im sekundären, tertiären und quartären Sektor schafft. Im Gegensatzzu vielen anderen industriellen Produktionssektoren benötigt der entstehende Offshore-Windindustriesektor aufgrund der verwendeten Schwerlastkomponenten - einzelne Anlagenkomponentenwie Fundamente und Maschinenhäuser wiegen bis zu 350 t - eine ganzspezifische Supra- und Infrastruktur. Die Grundintention der industriellen Standorttheorie vonAlfred Weber (1909), dass der optimale Standort eines Industriebetriebes am mathematisch errechneten "tonnenkilometrischen Minimalpunkt" (Transport-kosten-Minimalpunkt) ist, hat fürdie Offshore-Windindustrie aufgrund der verwendeten Schwerlast-komponenten eine übertragbareBedeutung. Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien werden bei Verfolgung dernachhaltigen Strategie "Logistikoptimierte Offshore-Basis-, Wartungs- und Service-Häfen für dieOffshore-Windindustrie hohe Investitionskosten in schwerlastfähige Gewerbe- und Industrieflächensowie Kaianlagen in den Seehäfen getätigt werden müssen. Die wichtigsten norddeutschenHäfen dieser Gruppe sind Cuxhaven, Bremerhaven, Emden sowie die Häfen der"Hafenkooperation Offshore-Häfen Nordsee Schleswig-Holstein" (mit den NordseehäfenDagebüll, Brunsbüttel, Husum, Helgoland, Wyk auf Föhr, Büsum, die Sylter Häfen List undHörnum sowie der am Nordostsee-Kanal in Schleswig-Holstein liegende Hafen Rendsburg-Osterrönfeld). Als relevante ostdeutsche Häfen konnten die Häfen Rostock, Rügen undSassnitz identifiziert werden. In den britischen Häfen wird erst seit Bekanntgabe bzw. derFestlegung der "Tender Round 3"-Entwicklungszonen (Jahr 2010) ein auf die Offshore-Windindustriezugeschnittenes Hafenentwicklungskonzept erarbeitet. Im Fokus stehen hier Häfen ander (Nord)Ostküste Englands (Hartlepool and Tees, Tyneside, Humber und Great Yarmouth)und der schottischen Küste (Hunterston, Cromarty Firth, Peterhead Bay, Montrose, Dundee undMethil).In den logistikoptimierten Offshore-Basishäfen werden durch die dort ansässigen Wirtschaftsförderungs-und Regionalentwicklungsgesellschaften "Clusterkonzepte" verfolgt, die durch einegeographische Konzentration von miteinander verbundenen Unternehmen und Institutionen ineinem bestimmten Wertschöpfungsbereich ein hochkomplexes, diversifiziertes Produktionsnetzwerkmit dynamischen internen Interaktionen in einem Agglomerationsraum fördern. Die standorttheoretischeIntention ist, dass durch räumliche Nähe und Synergieeffekte die wirtschaftlicheEntwicklung sowie das Entstehen von Wissen und Innovationen stärker forciert werden. Diehochspezialisierten Anbieter von Automatisierungstechnologien der industriellen Produktionhaben erste Prototypkonzepte für eine (Teil)-Automatisierung verschiedener Fertigungsschritteder unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen erarbeitet und in der Praxis in Unternehmen derOffshore-Windenergie-Branche umgesetzt. In Deutschland, anders als in Großbritannien (wobisher wenig Industrie im Bereich Windenergie vertreten ist), ist die On- und Offshore-Windenergiebranchein ein engmaschiges Netzwerk von Zulieferunternehmen integriert, welchessowohl durch eine starke Arbeitsteilung untereinander, als auch durch einen ausgeprägtenWettbewerb zueinander charakterisiert werden kann. Durch diese Umstände werden die Unternehmenindirekt gezwungen, in den immer kürzer werdenden "Produktlebenszyklen" umfangreiche"Produkt- und Prozessinnovationen" zu entwickeln und umzusetzen.
Identifikationsnummern
- RWTH PUBLICATIONS: RWTH-2016-07383